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Saturday, 27. November 2004

MUTANTENWELT:

Phantomzone Parallelgesellschaft

Die Jungs vor dem Gemüseladen hielten immer wieder ein schnell hergestelltes Pappschild mit der Aufschrift "Ghettotürken, bitte nicht füttern" in die Kamera. Die Leute vom Fernsehen waren genervt. Die Jungs wollten sich einfach nicht anpassen. "Wart ihr auch schon bei integrierten Türken", frage ich und bohre den Dolch noch tiefer. "Ihr solltet unbedingt noch die beiden Damen vom Feinkostladen Weinblatt im Graefekiez oder den Laden für geröstete Nüsse da drüben abfilmen." Das Fernsehteam vom Nachrichtensender n-tv findet mich nicht witzig und langsam ist ihnen die Sache auch nicht mehr geheuer. Da wollte man mal wieder den Kottbusser Damm mit Kopftüchern und türkischen Schildern an den Geschäften abfilmen, zurück ins Studio, voice-over und irgendwas über "Stadtteile, die scheinbar zu Istanbul gehören" geredet, die Terrorzelle Neu-Kölln noch ein wenig größer geredet, fertig. Stattdessen Punker und Jungtürken mit Goldkettchen, die ständig ins Bild rennen und Faxen machen. Journalisten aus der Provinz testen die soziale Klimalage in Kreuzberg. Eigentlich wollen sie aber nur die immer gleichen Bilder einfangen, die den Menschen in Gütersloh, Passau und anderen Provinzen das Gruseln lehren sollen.

Deutschland hat mal wieder das nationalistische Kriegsbeilchen ausgehoben. Wegen ein paar mörderisch religiösen Fanatikern in Holland kriechen aus dem Schoß der Leitkultur mal wieder die einschlägig bekannten Modelle von treudeutschen Arschgeigen, deren hoffnungsloser Dummheit auch mit einer gehörigen Tracht Prügel nicht mehr beizukommen ist. Helmut Schmidt "bedauert", Ausländer ins Land gelassen zu haben und verabschiedet sich damit endgültig in die Senilität. Auch im Magazin der Süddeutschen Zeitung wirft Rainer Stadler einen "nüchternen Blick auf die gängigsten Vorurteile." Als würde man einen Überblick über gängige Features von Digitalkameras besprechen. Alles ganz sachlich und immer betunlichst eine Haltung vermeidend. Heinz Rudolf Kunze, der mit Abstand widerlichste Vertreter uralter Männer, die ihren Schrott mal wieder per Quote einklagen dürfen, kann dazu ein Lied singen.
Germany, zero points. Kulturell über das Ende längst hinaus und immer noch nichts dazugelernt. Im Fernsehen die "100 peinlichsten Hits auf Deutsch" mit einem Englisch radebrechenden Reinhard May (oder Mey oder so ähnlich...), dem da auch zu viele Ausländer im Radio singen und dann immer diese Vaterlandsverräter, die in Englisch singen. Stattdessen soll in Moscheen auf Deutsch gebetet und die Stuttgarter Zeitung will gleich jedem Bürger ohne ausreichende Deutschkenntnisse die Aufenthaltsgenehmigung entziehen. Deutschland einig Maschendrahtzaun. Multikulti ist zu einer Subkultur für schlechte Musiker aus aller Herren Länder verkommen und dient nur noch als Hochzeitsmarkt für verblödete Sozialpädagoginnen aus gutem Hause, die ein wenig Exotik in ihr Leben bringen wollen und beim Tanzen ekstatisch ihre Arme in der Luft ausschütteln. Bildungsbürger stürzen sich kopfüber in den schunkelnden Chor der deutschtümelnden Hosenscheißer, die Religion und Nation weiterhin in einen Topf werfen und zu einer unguten Suppe verrühren. Ein gesunder Anti-Amerikanismus gehört auch dazu und Weltmeister im Einkaufen von Heimkino-Anlagen sind die Deutschen sowieso. Man isoliert sich wieder von den Nachbarn und sucht nach einfacheren Lösungen. Zum Glück ist die CDU mit internen Grabenkämpfen und juristischen Nachspielen beschäftigt. Sonst würde uns vermutlich längst eine neue Unterschriftenkampagne drohen.
Gerade die Schwäche der Opposition öffnet aber die Flanke für Kanidaten vom Schlage Roland Schill und die Kameradschaften der NPD. Neulich sah ich Reiner Calmund vor Frau Christiansen über die rechtsradikale Unterwanderung von Sportvereinen in Sachsen referieren. Den Vertretern von Politik und Medien fiel dazu ebenso wenig ein wie man nach den sächsischen Wahlerfolgen der NPD hektisch aus dem Fernsehstudio floh und das Schlachtfeld Fernsehen kampflos den Nazis überließ. Lieber ereifert sich das Bildungsbürgertum über die Dschungelshow "Ich bin ein Star, holt mich hier raus" oder die Rechtschreibreform.
"Daran erkenne ich meine Deutschen, eine bestimmte Sorte von ihnen. Wenn sie in der Tinte sitzen, in die sich selber hineinbegeben haben, dann fangen sie arrogant-erhaben zu faseln an, statt sachlich und unbarmherzig mit sich selbst. – das hätte nichts mit Masochismus zu tun – die neue Situation anzupacken.” (Der Exil-Schriftsteller Alexander Moritz Frey in einem Leserbrief an die Zürcher Zeitung "Tat" vom 17. Januar 1946)
Sie leben in ihrer Parallelgesellschaft und fürchten die Veränderung, diese Deutschen, diese bestimmte Sorte von ihnen. In Berlin trifft man glücklicherweise eher selten. Vielleicht leben sie auch längst in einem anderen Land.
Ich gehe Kippen holen und grüße den chinesischen Imbissbesitzer. Die türkische Bäckerin erkundigt sich nach meiner Erkältung. Onkel Mo aus dem Libanon sitzt auf den Stufen vor seinem Laden und lächelt. Die Italiener streiten sich lautstark, füllen mir dann aber doch eine Flasche Roten ab. Ich treffe den palästinensischen Popstar an der Ecke und wir halten einen Schwatz. Ein Amerikaner mit schwarzer Hautfarbe kommt zu Besuch. Er macht sich gleich über den Rotwein und die Brötchen her. "Gestern traf ich einen Typen mit einem KukluxKlan-Shirt an der Schönhauser Allee", berichtet er. "Ich mußte so lachen, daß der Kerl sofort geflüchtet ist."


ID - Stefan Ernsting - I have two books out, I work on cool movies and I've been blogging for 8352 days.

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English Info

Übersetzung:
David Wojnarowicz
Closes to the Knives

(Mox und Maritz Verlag)

"Von Stefan Ernsting hervorragend übersetzt." (Bayrischer Rundfunk))

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