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Monday, 26. May 2003

MUTANTENWELT:

Historisches Blutvergießen

Zwei Tage Sortieren der Vergangenheit. Alle paar Jahre dieses Ritual bevor man ein letztes mal die Tür hinter sich schließt um ein neues Nest zu beziehen. Die Wohnung hat jetzt eine andere, eine junge Frau, die in Berlins authentisch coolstem Club das Kommando hat und das festgewohnte Flair meiner Behausung sofort zu schätzen wusste als es darum ging, wer sich ihrer annehmen sollte.

Raus aus der Kreuzberger Boheme-Simulation und in die Traufe. Prenzlauer Berg. Mauerpark. WG. Ein Haus mit echten Einschußlöchern von den Russen, bröselndem Putz und wüsten Tags im Treppenhaus. Eine Wohnung mit Ofenheizung, aber dafür ohne richtige Klingel. Dit is unsa Bärlin, wa?! Darum war es ja eigentlich nur gegangen. Möglichst billig und der Rest kommt dann von selbst.

Tito sagte, es geht in diesem Jahr nur noch um Überleben und damit hat er wie immer mehr Recht als er denkt. Er ist ein kluges Kind und merkt es kaum. Schafft sich tot und freut sich wie ein kleines Kind wenn mal die Sonne scheint. Obwohl es ihm finanziell immer viel schlechter ging als mir, war es immer Tito, der den Sonnenschein ins Haus brachte. So war es seinerzeit vor gut zehn Jahren und festnetzgünstig hat sich da nicht viel verändert. Sehen was bleibt, wenn man weiß, wo man selbst bleiben kann.

Fotos und Flyer sortieren. Was wird in der Zukunft sentimentalen Wert haben und was ist nur noch Ballast. Wie immer ist die wichtige Privat-Schublade zuerst dran und wie bei jedem Umzug vermischen sich die Momente im Schnelldurchlauf. Vor über drei Jahren die letzte Runde. Damals war es schnell gegangen. Immerhin zog ich raus aus diesem düsteren Loch in der Prinzenstraße und hatte im Anschluß mehr Platz als je zuvor. Kurz nach dem Umzug in die Hauptstadt gab es noch nichts zum wegwerfen und nicht genug Zeit war vergangen um zu entscheiden, woran man sich klammern wollte.

  1. Was für ein Jahr in meinem Leben. Aus der Zeit in der Prinzenstraße ist nicht viel erhalten. Wenn ich mal mein Buch schreibe, "Wie werde ich ein berühmter Schmarotzer ohne Furcht und Tadel", wird diese Zeit kaum bebildert werden können. Obwohl es natürlich ein geil bescheuertes Bild von Freund cursor gibt, wo sich dieser, kurz vor der Morgen-Toilette, mit meinem Klingelschild ablichtete, welches weiterhin einen gewissen "Alfredo" als Bewohner verzeichnete. Aus irgendeinem Grund hatte ich nie meinen Namen an die Tür geklebt. Alfredo hatte die Wohnung von seinem Herrn Vater gezahlt bekommen, aber eines Tages mußte er dringend fliehen. Die Nachbarn dachten sich die tollsten Gangster-Stories aus und ich fand, daß das Alfredo-Schild die Wohnung ungemein aufgewertet hat.

Ansonsten ging alles sehr schnell. Stürzten die Computer ab oder würden alle halbwegs aufgeweckten Köpfe stattdessen einen gutbezahlten Job bekommen.

Die erste Euphorie über die Dummheit der Wirtschaft wich schnell der Ernüchterung.

Der neue Job. Die Sache mit dem Internet. Die erste Entlassung als Nadja auf ihre Kompetenzen hinwies und nicht länger nur fürs Jasagen bezahlt werden wollte. Sie war wie Tito, zu gutmütig und zu abgefuckt in gleichem Maße.

  1. Die hellsten Hirne meiner Generation zurück auf der Straße und nicht mehr nur noch hungrig nach dem Leben. Man rechnete seinen Monatssold wieder in Konservendosen aus. Erinnerte mich an Ollie, der mit mir gemeinsam den zweiten Job meines Lebens bestritt und sein Gehalt per Taschenrechner direkt in Hansa-Dosen umrechnete.

Wir bekamen 25 Reichsmark die Stunde um eine Wohnung blutüberströmte Wohnung zu renovieren, die gerade von der Kripo abgenohmen worden war.

Grohner Düne Bremen-Nord. Neue Heimat. Wohnsarg 23 im 12.Stock. Ein türkischstämmiger Miitbürger hatte seine Frau mit einer Axt in sieben Teile gehackt weil sie "zu westliche" Vorhänge an die Fenster gehängt hatte. Danach hat er die blutigen Überreste in die Küche geschleift um den weißen Berber-Teppich nicht endgültig zu ruinieren. So stand es im Protokoll und der Kripo-Mann wollte schnell wieder weg.

Der Gestank mitten im Sommer war bestialisch. Das Blut war bis an die Decke gespritzt und der Teppich lag immer noch Wohnzimmer. Irgendwo ein Rest von Kinderspielzeug, ein paar Tassen und was das Entrümpelungs-Kommando sonst so verloren hatte. Der greise Schwarzarbeiter, der mit Ollie und mir für den Job eingeteilt war, übernahm sofort das Kommando und veranschlagte intern das Doppelte der tatsächlichen Arbeitszeit für die ganze Schweinerei. Ollie ging zu Aldi und machte die Badewanne voll mit Hansa. Zusammen schleppten wir den schweren Teppich runter und damit war der wirklich beschissene Teil beendet. Der Gestank legte sich nach dem ersten Anstrich. Am zweiten Tag brachte Ollie seinen Ghetto-Blaster und wir hatten prima Spaß mit Hansa, Slime und den Dead Kennedys. Wir guckten runter in die Ghetto-Burg und lernten, was man unter einer Arbeiter-Zigarette tatsächlich zu verstehen hatte.

Ich war 16 und das böse Leben wurde gerade erst so richtig lustig. Wir hatten unsere Spachtel und kratzten die blutige Tapete samt Kripo-Sticker von der Wand. Wir machten unseren Job. Abends am Utkiek hatte man was zu erzählen und auch der alte Alfred von der SPD zollte für die Geschichte mit Freibier Tribut.

  1. Ein Funkloch in meinem Leben. Eine langjährige Beziehung ging zu Ende und eine neue Liebe war in Sicht. Man ging auf Parties von der Firma De:Bug und irgendwelche Männlein erzählten in Lounges was von Streaming und wie die Welt sein sollte. Sven und Christine waren plötzlich Berlins angesagteste DJs für Drum & Bass. The beat was still family.

Eine unwirkliche Zwischenzeit. Beim Aussortieren bleibt jenseits der Fotos kaum noch etwas über. Wie war das gewesen am Anfang des Jahrtausends? Welche Fragmente wollte man behalten?

Das politisierte Private hatte endgültig gewonnen und die Brut hatte ihre Saat verteilt. Man sah sich am Rande und man wusste wo man herkam. Bist du nicht, hast du nicht, ach, verrückt, lass uns einen trinken.

So war es und so ist es, aber die kulturellen Splitter wiederholen sich oder bieten wenig Neues. Irgendwer kokettiert weiter irgendwo mit dem Kunstmarkt und man hatte gut getrunken.

Was bleibt übrig in der alltäglichen Matrix.

Schrecklich. Die Matrix. Diese simple Metapher und der dazugehörige Medienschaum ohne Hirn und Verstand. Das bischen Todschlag und was soll das Geheule wegen der Gewalt. Gregor schickt mir die Erklärung und warum.

Na gut, wegen mir, aber dafür dann ins Kino gehen...

Und es geht um das Gefühl. Um das Geld geht es auf alle Fälle nicht und die Spezial-Effekte erwartet man doch sowieso. Der Motor stottert, aber der Verkehr ist wieder gut.

Kosten reduzieren. Das neue Erfolgskonzept ist eine Kneipe mit einem großen Angebot an Billigbier. Dem Punk gehts wieder gut und oben auf dem Sims steht der Mann mit dem Schwert. Er sieht hinunter in die ausgestorbene Einkaufsstraße und nichts ist wie es scheint.

Nur das Katana bleibt. Zeugnisse von alten Selbstbildnissen. Die Abi-Zeitung und die Charakter-Bögen vom Geisterverein fallen mir wieder in die Hände. Ein Plakat der "Brotherhood of the Black Hat" unter dem legendären Eickhoff-Management. Meine erste Band. Alter Schwede, those were the days. Dieser verflucht unschuldig geile Spaß, den man hatte. Ein Plakat anlässlich des alkoholtechnischen Rumble in the Jungle zwischen Eickhoff und "Evil Dad", die ersten "Violent Fun"-Newsletter. Andreas, fucking underground! Bei jedem Umzug lache ich mich wieder tot und halte die Dinger in Ehren. Die ersten Show von A.S.E. als Hanno sich die Hose angezündet hat und Tobi ihnen den Strom abgedreht hat. Dann der ganze Kram in Sachen Gags & Gore und so. Dieses Foto von Lars auf der Nummer#1 und die alberne Geschichte dazu.

Diese Sachen, die man wichtig fand. Die Politaffären, die Presse-Mappen, all das Zeug. Feuer und Flamme war man gewesen und hatte sich ein Bewußtsein geschaffen, was grinsen läßt. Das Programm zum "Flut"-Festival, wo Green Day im Vorprogramm der Party Diktatoren spielen mußten und Panel irgendwas mit Comics machte während Friedemann und Fabsi ihre Bingo-Nummer durchzogen. Dr.Bohm und Herr Voss. High Moon-Parties. Jungle Action, Hubert Kenkel, APPD. Das letzte Konzert in der Buchtstraße: Bobby Conn, 1998. Eines Tages werden sie unsere Leichen aufbahren und mit Dreck bewerfen, aber, verflucht, wir hatten unseren Spaß.

Danach kam lange nichts und nur diese diffuse Suppe aus E-Mail und kapitalistischen Visionen für den Underground.

Jetzt erklärt Maxim wie man beim Arbeitsamt möglichst viel rausschlagen kann. Heroic Blodshedding. Effenberg liest das Tagebuch von Adolf Hitler und Deutschland schreit nach einer Type von seinem Kaliber. Einer, der mal sagt, was eigentlich alle denken, wenn sie überhaupt denken. Wer bleibt im Gedächtnis... Möllemann als neuer Tabu-Bruch und Dieter Bohlen als letzter Linker in den Medien. Good-Bye Dieter Hildebrandt und all die anderen alten Männer und Frauen.

Jetzt sind wir allein.


ID - Stefan Ernsting - I have two books out, I work on cool movies and I've been blogging for 8334 days.

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Info & Pressestimmen (PDF)

English Info

Übersetzung:
David Wojnarowicz
Closes to the Knives

(Mox und Maritz Verlag)

"Von Stefan Ernsting hervorragend übersetzt." (Bayrischer Rundfunk))

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