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Thursday, 2. January 2003

MUTANTENWELT:

Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexe

Als Berliner hat man es gut. Man weiß um die Vorzüge der Metropole, die man als Wohnsitz auserkoren hat und denkt meist nicht weiter darüber nach. Leben ist eine erfüllende Sache, wenn man sich nicht von den essentiellen Dingen ablenken lässt und in Berlin lässt sich etwaigen Störenfrieden dabei leicht aus dem Wege gehen. Steht man in der U-Bahn und eine Ansammlung angetrunkener Schwaben oder froh gelaunter Rheinländer auf Betriebsausflug fragt nach dem Weg zum Bahnhof Zoo, tut man einfach so als würde man die Frage nicht verstehen und sagt etwas in der Art von "nix verstehen Deutsch". Die meisten germanischen Touristen auf Gruppenreise sehen sich dann in der Annahme bestätigt, daß Berlin halt ein Dschungel sei und man eventuell doch besser nicht am Kottbusser Tor umsteigen sollte. Der Westdeutsche hat sich im Laufe der Jahre ein festes Bild von dieser sonderbaren Stadt gemacht und man tut gut daran dieses stets zu untermauern. Hinweise darauf, daß der Berliner an sich dauernd Fassbrause und Berliner Weiße in sich reinschüttet, man Kreuzberg nur mit der Kettensäge betreten sollte und auf dem Kuhdamm einfach immer superviel los ist, stoßen beim Westdeutschen stets auf großes Interesse. So hat er sich das vorgestellt. Wenn diese Trampel sich am Ende ihres Aufenthalts in der großen, bösen Stadt noch schnell ein T-Shirt der beliebten Kette im Hard Rock Cafe zulegen können, kann man sicher sein, sie so schnell nicht wieder sehen zu müssen. Hard Rock Cafe-Shirt ist wie früher diese Plaketten an den Wanderstöcken. Gesehen, abgehakt und tschüß.

So sind sie alle, diese Westdeutschen, die einem im fortgeschrittenen Alter gern zu Tränen rührende Geschichten auftischen wie das mit der Mauer war und dann kommt natürlich auch noch das mit Kennedy und wie dankbar man als Wessi für die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen sein sollte. Die Hauptstadt wird gnadenlos akzeptiert. Viel zu lange litt der Westdeutsche an seinem Minderwertigkeitskomplex, nur eine provisorische Hauptstadt zu haben. Und mal ehrlich, wer fuhr als Tourist schon groß nach Bonn?

Das ist jetzt natürlich schon viel geiler, wo man auf den Reichstag klettern und in richtig echte Polizeisperren wegen irgendwelcher Staatsbesuche geraten kann. Da weht der Wind der großen weiten Welt und das kann man in Bad Godesberg nicht im gleichen Stil veranstalten. Das sieht der Wessi ein. Lediglich die Münchener haben plötzlich ein Problem.

Sitzt man so friedlich im Kaffe Burger, umgeben von versoffenen amerikanischen Schriftstellern, einem iranisch-irischen Crash-Unternehmer, dessen lautstarken Freunden und einer schwer merkwürdigen Mischpoke aus Künstlern, russischen Rockstars, Spinnern und Verirrten. Das Bier ist preiswert, irgendwo raucht jemand Haschisch und auf der Bühne flackern die Seiten eines Comicalbums als Diashow mit krachiger Soundkulisse. Man feiert ein neues Jahr und alles ist gut, relaxt und niemand wollt etwas Böses ahnen.

Geht die Tür auf und zwei schicke Münchener torkeln rein. Der Eintrittspreis erscheint ihnen zu billig und das abgerissene Interieur der Ossi-Kaschemme scheint ihnen zunächst suspekt. Kaum haben sie ein Bier, labern sie einen auch schon voll und sprechen dabei Werber-Deutsch mit Begriffen wie "stylish", "trendy" oder "angesagt". Und dann sind sie entsetzt, daß man gern in dieser Stadt lebt und München für langweilig hält.

Schon quatschen sie sich einem an der Schulter fest und dann werden sie wieder ausgepackt, die touristischen Vorzüge der Kleinstadt mit U-Bahn. Als wäre jeder Münchener das Fremdenverkehrsamt. Man kann rund um München ganz toll skilaufen, wird gesagt. Aha! Als würde das irgend einen normalen Menschen interessieren.
Danach kommt dann die Sache mit dem Glamour. Wenn doch immer alles so cool ist in Berlin, müßte man das doch auch draußen dran schreiben, Backstage-Ausweise verteilen und gleich die Presse anrufen. Das versteht der Münchener nicht.

Die haben da so ein Image-Problem und klammern sich verzweifelt daran, daß München sich selbst bereits zur Weltstadt ausgerufen hat als die Mauer noch stand. Mit allerlei Budenzauber versucht man nun sich egomäßig neben dem alten Preußen-Koloß zu behaupten. Dinge wie der bayrische Filmpreis werden mit rotem Teppich zum Welt-Ereignis stilisiert, das Okotberfest wird zum Schaulaufen, die abgelegten Freundinnen von Boris Becker und eine Armee von Viva-Barbies gehen als Prominente durch. Sehr albern. Ich hab nichts gegen Bayern, aber ich würd nie nach München ziehen.

Und sie kapieren tatsächlich nicht, warum man das doof und überflüssig findet. Sie wollen den roten Teppich und einen extra abgeteilten Tanzbereich für Wichtige mit Wimpel. Die Frage ist nur, was will man als Münchener dann überhaupt in Berlin?

Wo man in München die Saubermann-Ästhetik feiert, gefällt sich der Berliner in seinem sumpfigen Eintopf aus Pleiteprojekten, Second Hand und Abrisshäusern. Aus den Galerien schwappt dabei eine langweilige Kunst, die jedes Lebenszeichen auf Leinwand schon deswegen als großes Ereignis zelebriert weil man dann auf einer Gästeliste stehen kann und Backstage-Bier saufen kann. Ohne DJ und Sektchen keine Party und keine Kunst. Dit is halt so. Und wer sich da alles so seit Jahren im subkulturellen Saft dreht, tut dies oftmals nur noch aus Karriere-Gründen. "Was soll ich mir denn da in meinem Lebenslauf unter Erfahrungspunkte aufschreiben," wird man dann gefragt. Kultur als Soundtrack zur Lebenseinstellung, wie dereinst im Hardcore-Milieu agitiert, funktioniert auch nur noch sehr bedingt und wer will schon den ganzen Tag Crustpunk hören oder Erik Drooker lobpreisen...

Dafür ist man ja zum Glück erwachsen, aber ein wenig mehr politisches Fundament täte den all den Huren, Strichern, Funktionären und Groupies der Berliner Kultur-Landschaft mal wieder ganz gut im Gesicht. Die sind ja auch immer alle so blaß weil sie tagsüber schlafen müßen. Morgens mal ein paar Kniebeugen machen, die Interim abonnieren, dann klappt's auch mit dem Image.

Mr.Empire an's Telefon!

Gestern spielten auch Britta in der Volksbühne für 15€. Viele fanden das zu teuer und es roch schwer nach Lehrer-Party am Rosa-Luxemburg-Platz. Der Preis wurde damit gerechtfertigt, daß der Adelige Dirk von Tocotronic auf einem Kamm blasen sollte und auch sonst allerhand Gäste sowieso umsonst rein durften weil sie ebenfalls auf dem Plakat standen. Zusammen mit dem Rest der Gästeliste ist der Puff dann auch sicher schnell voll gewesen und niemand hat wirklich Geld verdient. Total unkommerziell an sich. Weil Blitzeis war, konnte man aber eh nur unter Einsatz seines Lebens das Lokal wechseln und so blieb man im Burger, wo es dann noch hieß, wir müßen am 18.1. alle ganz viel demonstrieren oder am 27.1. geht der Krieg los weil Bushie da seine Rede halten tut. Der Papst und Doris ihr Mann haben auch tolle Reden gehalten weil ja Neujahr war. Der Gerd hat ganz ernst geguckt. Demnächst gibt es bestimmt wieder große Veranstaltungen, wo der Gerd mit Marius Westermüller zusammen die totale Solidarität einfordert und jede Menge Spenden im Fernsehen gesammelt werden. Wird es um neue Fluten gehen? Flut hat's ja voll gebracht im letzten Jahr. Super Bilder und toll zum menscheln weil die Bundeswehr keine Zeit mehr für so was hat wenn der Bürger bis zum Hals im Schlamm steht. Da kommt die Solidarität von ganz allein auf und der Gerd kann sich freuen.

Ganz lustig eigentlich auch, der Steuersong vom Gerd. Schon allein weil es den Gerd wohl geärgert hat. Das geht den Hafensängern der Deutschen Weltstadt-Kultur ja mittlerweile völlig ab. Nicht immer nur braver, rationaler Bürger sein und was von Vernunft faseln. Wolkenkuckucksheim steht in Flammen, Freunde. Das System braucht neuen Schmierstoff um die Illusion von seiner allgemein gültigen Gerechtigkeit weiter aufrecht zu halten. Es wird in diesem Jahr noch mehr Propaganda geben. Ich höre jetzt schon Menschen diese Sachen sagen, die sie morgens in der Zeitung gelesen haben. "Damit es nicht am Thema fehlt", wie es Abwärts formulierten. Der nicht ganz so nahe Osten wird einem aus der Sicht der Jungs von Focus erklärt. Fehlt nur noch, daß die Leute sich die Info-Graphiken ausschneiden und mit in die Kneipe schleppen...


ID - Stefan Ernsting - I have two books out, I work on cool movies and I've been blogging for 8334 days.

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English Info

Übersetzung:
David Wojnarowicz
Closes to the Knives

(Mox und Maritz Verlag)

"Von Stefan Ernsting hervorragend übersetzt." (Bayrischer Rundfunk))

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