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Sunday, 20. October 2002

PERSONEN:

Lothar Schirmer - Kunstsammler

Beuys wie er singt und lacht

"Wir sind die Roboter" quakt ein Fernseher durch die Halle. "Das ist sozusagen der audio-visuelle Teil." Ein Lächeln erklimmt die Lippen von Lothar Schirmer, hintergründig, verschmitzt und wissend, aber dennoch halb entschuldigend. Einer der Kollegen wirft einen verächtlichen zweiten Blick auf vier riesige Fotos des Holländers Anton Corbijn, in deren Rahmen sich die Dauerschleife eines monotonen Musik-Videos spiegelt. Vier Männer mit ausdruckslosen Gesichtern oder sind es Schaufensterpuppen, Lothar Schirmer deutet noch kurz mit dem Arm in die andere Richtung und weist auf ein Bild von Inez van Lamsweerde, "my mother? I'll tell about my mother", eine Frau im Büro vom Schlage 100% Synthetik. Gruselig ! "Irgendwie am Computer manipuliert" befindet der Sammler, will wohl noch etwas sagen, aber die Journalisten-Horde ist weitergetrabt. Endlich darf der letzte Raum betreten und der Geist des Mannes eingeatmet werden, den die Ausstellung bereits im Titel anführt. Die große Zahl von Zeichnungen vom Ozzy Ozbourne der freien Kunst hat man bereits gesehen, nun erreicht die Führung durch die Ausstellung seinen Höhepunkt. Ein aufgespießter Hase, an eine Tafel gelehnt, ein alter Ofen, ein Kleintierstall voll Unrat, ein Haufen Schrott in gedeckten Farben, "vor dem Aufbruch aus Lager I" genannt, phantastisch ! Nicht zu vergessen natürlich die gute, alte Badewanne, wahrscheinlich das bekannteste Werk von Joseph Beuys aus Düsseldorf. Schirmer hatte das Objekt, mit Heftpflaster, Mull und Vaseline künstlerisch ausgestattet, im Jahre 1973 an ein Wuppertaler Museum ausgeliehen, von wo die Wanne mit einer Wanderausstellung in den Abstellraum eines Museums in Leverkusen gelangte. Bei einer Fete des SPD-Ortsvereins wurde das Objekt dann als Bierkühler verwandt und die Affäre endete damit, daß die Stadtverwaltung zum Schadensersatz von 180000 DM verdonnert wurde. Ein Foto von Ludwig Rinn zeigt Beuys in Schirmer's Wohnung "beim Anrühren und Mischen von Ölfarbe während der Neubearbeitung", quasi beim Remixen des Objektes. Egal, Badewanne ist Badewanne, das Kunstwerk scheint dasselbe zu sein und die Presse ist zufrieden.

Es scheint zunächst schwierig einen roten Faden in den Werken zu finden, die der Münchener Verleger in 25 Jahren zusammengetragen hat. Kein Kunsthistoriker würde eine solche Kombination zusammenzustellen. "Wie eine Wanderbühne" hat sich die Ausstellung ausgebreitet wird gewitzelt. "Eine gewisse ästhetische" sowie eine "geistig künstlerische Haltung" weiß Wulf Herzogenrath trotzdem zu erkennen, der in der Kunsthalle nicht nur der Boss ist, sondern auch seit vielen Jahren mit Lothar Schirmer eng befreundet. Wie zwei Schuljungs freuen sich die Beiden auch dementsprechend über ihren gelungenen Coup, die Sammlung erstmals der Öffentlichkeit zu zeigen und das eben nicht nur weil u.a. die international bedeutendste, "privat verborgene" Beuys-Sammlung dazugehört. Nein, die Freude an der Kunst liegt in der Luft und wenn der Titel der Ausstellung auch vermuten lässt, es mit einer Art"die größten Hits der Nachkriegskunst" zu tun zu haben, so irrt man doch gewaltig. Erstens fehlt dafür mindestens ein Andy oder Roy und zu viele Unbekannte gesellen sich gleichberechtigt zu Cy Twombly, John Cage, Cindy Sherman und natürlich Beuys. Michael Schirmer präsentiert seine Sammlung mit großer Leidenschaft und wird nicht müde, die Jounalisten mit persönlichen Anekdoten zum Erwerb einzelner Werke zu unterhalten. Hans-Peter Feldmann's "Objekt mit roten Schuhen und kolorierter Photokopie" ließ bei seiner Lebensabschnittsgefährtin den Verdacht der Untreue aufkommen: glänzende, neue Schuhe ? Da konnte nur eine andere Frau dahinterstecken ! Scherzhaft fasst man die ausgestellten KünstlerInnen als "die Sensibilisten" zusammen, Individuen, die sich Genres, Strömungen und Klassifizierungen entziehen, kreuz und quer im Weg liegen. Der Zusammenhang erschließt sich aus der Sammelleidenschaft des "engagierten Süchtigen" und "besessenen Papierfetischisten" Michael Schirmer, der Kunst zu sammeln begonnen hat bevor der Kunstmarkt in den 60ern zu explodieren begann und die "documenta" für eine breite Popularisierung der Gegenwartskunst sorgte. Von Bremen-Vegesack aus, machte sich der junge Schirmer 1962 in die Innenstadt auf um sich in der Kunsthalle die Adressen von ihm geschätzter Künstler aus dem Künstlerindex rauszuschreiben und diese privat aufzusuchen. So begannen Freundschaften mit Künstlern wie Beuys, Lothar Baumgarten und anderen, die sich heute für erlesene Weine interessieren können und auf exklusiven Parties mit Jack Nicholson bekannt gemacht wurden. Als Chef-Redakteur der legendären Schülerzeitung "Echo" sorgte er1963 auch dafür, daß die Cover von möglichst exklusiven Künstlern der Gegenwart gestaltet wurden. Krönung war ein Cover vom großen Roy, was dieser später persönlich signierte. Nach seiner Bundeswehrzeit entschied sich Schirmer für den Beruf des Verlegers und das schon allein deswegen "weil der Künstler immer mit seiner Frau in der Küche steht und überlegt, wo man noch schnell die besten Werke verstecken kann, wenn plötzlich ein Kunsthändler in der Tür steht." Als Verleger konnte er auf die Eitelkeit der Künstler hoffen, die natürlich ihre besten Sachen nicht ungedruckt sehen mochten. So war die Schirmersche Wohnung irgendwann bis zur Besenkammer voll mit Kunst und es kam immer noch mehr dazu. Zur Zeit steht aber nur ein Bett in der Wohnung. Der gesamte Rest der Einrichtung steht in der Kunsthalle.
Viele Fotos sind dabei, Heinrich Zille und August Sander leiten das Jahrhundert ein und Philipp Otto Runge's Scherenschnitte von 1805 zeugen von einem wesentlichen Merkmal der Sammlung, derAbneigung gegenüber Ölbildern und der Vorliebe für popmoderne Pioniere und deren Großväter. Der große Sander hängt an hellen Wänden wie eingangs erwähnter "audio-visueller Teil" der Düsseldorfer Gruppe "Kraftwerk" und daneben gleich die Hochofenköpfe, die Kohlebunker, die Fabrikhalle und andere industrielle Ansichten von Bernd und Hilla Becher. Ein kleines Guckloch in's 20.Jahrhundert tut sich auf, einer Zeit als Menschen noch keine Cyborgs mit künstlichen Persönlichkeiten sein wollten. Man verzichtet streng minimalistisch auf jeglichen biographischen Schnörkel zum tieferen Verständnis einzelner Werke, auf ein "Massengrab der Informationen" verzichten und über diese treffenden Worte sollten wir heute alle beim Einschlafen noch mal nachdenken.

Nachtrag: Ozzy Ozbourne ist ein Musiker des "Heavy Metal", der in den 70ern damit reich und berühmt wurde, lebenden Tauben die Köpfe abzubeißen und heutzutage in amerikanischen Spielzeugläden auch als Plastik-Action Figur zu haben ist (incl. Plastik-Tauben mit abnehmbaren Köpfen!)


ID - Stefan Ernsting - I have two books out, I work on cool movies and I've been blogging for 8186 days.

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English Info

Übersetzung:
David Wojnarowicz
Closes to the Knives

(Mox und Maritz Verlag)

"Von Stefan Ernsting hervorragend übersetzt." (Bayrischer Rundfunk))

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