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Monday, 5. December 2005

MUTANTENWELT:

Personal Jesus 3000

Nicht zuletzt durch einen gewissen Dan Brown und dessen schlecht geschriebene Bestseller über die Illuminaten und einen historischen Jesus, der die Kreuzigung überlebt hat, wird nicht nur zur gnadenbringenden Weihnachtzeit immer mal wieder gern über Herrn Jesus diskutiert. Im Umfeld satanistisch angehauchter Schwachmaten werden die Schmöker von Brown dabei durchaus ernst genommen. Der Autor habe daraus halt einen Bestseller gemacht, aber die Quellen hält man beim Okkultistenvolk für korrekt.

Nun gibt es andere Menschen, die behaupten, es habe überhaupt keine historische Figur Jesus Christus gegeben. Bei rinf.com kann man dazu aktuell "The Origins of Christianity and the Quest for the Historical Jesus Christ" lesen, wenn man in diese Richtung gehen will. Aber auch dann stellt sich die Frage: Gibt es etwas, was wir über das alte Ägypten besser wissen sollten, liebe Freunde von der Humbug-Fraktion? Warum kennt die offizielle Geschichtsschreibung all die Dokumente nicht, auf die sich die jeweilige Seite beruft?

Weil es sich in der Regel um Fälschungen oder fiktive Dokumente wie das "Necronomicon" des wahnsinnigen Arabers aus den Romanen von H. P. Lovecraft handelt. Besagtes Buch hat ein Spaßvogel mal tatsächlich rausgebracht und ein Exemplar der Kleinstauflage kann auf Anfrage bei Another Country in Kreuzberg eingesehen werden, was sich längst rumgesprochen hat und so tauchen immer wieder schwarzbekittelte Gestalten mit viel Kajal im Laden auf und fragen danach. Mit viel Dramatik und Getue holt der Chef das zerlesene Taschenbuch dann hervor und die Interessenten kriegen feuchte Hände. Ähnlich läuft es mit dem "Tibetan Book of the Dead" oder den diversen Büchern von Crowley und Co. Dafür gibt es diesen Laden, der eigentlich nur Bühne für ein tägliches Theaterstück ist und Kunden dieser Art sind die besten Nebendarsteller, die es gibt. Die Schwarzkittel setzen sich hin und studieren das "Necronomicon", wobei sie sich im Ambiente des Ladens erst so richtig wie einer der Helden von Lovecraft vorkommen.

Eines Tages kam eine Frau, die behauptete, sie wäre ein Vampir. Angespitzte Zähne, ausgehungert und verfilzt. Eigentlich war sie nur eine 19jährige Abiturientin, die aus Erfurt weggelaufen war und dankbar für die Tasse Kaffee war, die ich ihr anbot, aber am Ende wollte auch sie nur das "Necronomicon" sehen und ihre Studien "verbotener Bücher" fortsetzen. Ist ja mit dem internet heute eh kein Problem mehr, aber im Rahmen des Ladens macht es trotzdem mehr Spaß. Dann war da der Typ mit dem Hühnerknochen am Hals und sein Transenfreund und viele andere und alle suchten sie nach Büchern und Geheimwissen und immer dachten sie, wir würden ihnen etwas vorenthalten, etwas noch viel geheimnisvolleres als das "Necronomicon"(Zugegeben, wir bestärken solche Leute gelegentlich in ihrem Glauben, aber auch wenn man das nicht tut, glauben sie trotzdem, wir würden irgendwo noch ein paar geheime Bücher mehr verstecken ).

Verbotene Bücher also. Geheime Quellen, die nur ein paar weise Zwerge aus Tibet kennen. Das volle Programm. Die Sehnsucht nach einem Platz innerhalb einer geheimen Gesellschaft ist groß und Another Country gibt sich große Mühe, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Aber es bleibt ein Live-Fantasy-Rollenspiel oder man möge bitte die Quellen aus dem uralten Ägypten auf den Tisch legen.

Die leichtgläubigen oder unwissenden Außenseiter der Gesellschaft, die eigentlich nur irgendwo mitmachen wollen, wo sie ihre verschrobenen Machtphantasien vom Dorf ausleben können, tendieren inzwischen wieder dazu, am Ende tatsächlich Bauernfängern wie dem Duo Nicholas Schreck und Zeena La Vey auf den Leim zu gehen, die seit einigen Jahren in Berlin ihr Unwesen treiben.

Deren Werewolf Order firmiert inzwischen als "Temple of Set" und seine vorderste Sturmfront heißt dementsprechend The Storm. Kennen wir alles schon. Besuchen Sie mal Grufties gegen Rechts, deren hervorragendes Magazin "Die Geister die ich rief" seine 4 Euros mehr als wert ist (macht das doch mal bitte alles online!) Ist alles nicht neu, aber es greift massiv um sich.

Die Leute glauben uns nicht mehr, wenn wir sagen, "Leute, es gibt kein 'Necronomicon'! Das Buch hat jemand geschrieben weil damit ein wenig Geld zu machen war. ES IST NUR EIN WITZ!" Glauben Sie uns nicht. Sie glauben aber die Sache mit Jesus und wie er überlebt hat und die Sache mit Set und Ägypten und dem großen Siegel...

Warum will man jetzt aber verstärkt den armen Jesus da mit reinpressen?

Irgendwie brauchen Sie ihn ja doch... Und die rechte Avantgarde arbeitet ja bekanntlich z. B. auch längst nach dem Muster, linke Ikonographie zu vereinnahmen. "Ton, Steine, Scherben" und Palitücher auf Nazi-Demos und so. Da passt Jesus prima rein und Sekten wie The Call bieten auch gleich noch eine baldige Auferstehung an. Passt schon. Wie man sich vom Skinhead-Image löst, will man sich auch vom Kult um die nordischen Götter lösen (...hier, Marvel Comics, wie wär's? Kann euer Donnergott nicht mal den Mjölnir kreisen lassen? "Thor gegen die Nazis"!)

Löst sich der Unterschied zwischen Realität, religiösem Mythos und den Romanen von Dan Brown im popmodernen Sinne endgültig auf weil man sich beim Personal Charakter Design des neuen Jahrtausends sowieso einer radikalen Wandlung des Selbst unterziehen muss und will?

Man akzeptiert schon längst fiktive Lebensentwürfe als real.

12jährige lesen erst Harry Potter und danach gleich Crowley. Etwas Acid, böse Musik und eine verschissene Kleinstadt. Makes you wanna fly, but you're living a lie, living a lie. (hier jetzt multimedial harte Gitarren mit so 'nem Rapper-Break hindenken!)

Menschen verwandeln sich in Comicfiguren und leben ihr Leben in der Matrix eines Online Rollenspiels mit realem Outlet. Bei MySpace auf großen Auftritt machen und ganz viele Mails mit "add me"-Vermerk verschicken oder eben nur in ganz exklusiven Gruppen Mitglied sein... Aber irgendwie doch an Jesus festhalten und Wohlstandskind bleiben.

Schließlich wurde Jesus nur von kommerziellen Geschäftemachern korrumpiert und die Kirche als Institution hat ausgedient und Jesus hätte kein Merchandising gewollt und sie wollen den alten Jesus zurück, den Kuschel-Jesus von vor der White Noise Krise und der Dataminator reibt sich die Hände. Alle Fenster schließen sich. Retrolution. Reconstruction.

Die Zukunft hat begonnen und keiner hat's gemerkt. Wo kriegen wir jetzt Zitronen her, mitten in der Nacht...


ID - Stefan Ernsting - I have two books out, I work on cool movies and I've been blogging for 8334 days.

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English Info

Übersetzung:
David Wojnarowicz
Closes to the Knives

(Mox und Maritz Verlag)

"Von Stefan Ernsting hervorragend übersetzt." (Bayrischer Rundfunk))

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