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Tuesday, 8. March 2005

MUTANTENWELT:

Bomben für den Kaiser, Raketen für den Führer, Fusion Tanks für den Kanzler

"Ich kann nicht soviel essen wie ich kotzen will", ließ Max Liebermann die Nachwelt wissen. In seinem Haus rechts vom Brandenburger Tor, in dem er bis zu seinem Tode 1935 wohnte, residiert heute die Max Liebermann Stiftung der Bankgesellschaft Berlin. Am gestrigen Abend versammelte sich in diesem Haus eine illustere Runde im Rahmen der monatlichen Torgespräche, die von der Stiftung Brandenburger Tor veranstaltet werden. Eine Stunde Podiumsgerede und hinterher lecker Wein. Keine Einlasskontrolle, aber dafür darf man nicht rauchen. Hier findet statt, was man gern als "Begegnung" beschreibt. Dauernd wollen die Spitzen der Gesellschaft und in indische Tücher gewickelte Damen mittleren Alters "Begegnungen schaffen", vor allem, wenn gerade mal wieder ein paar Ausländer erschlagen wurden oder die Jugend sich besonders aufmüpfig gibt und Lehrer abknallt. In Berlin ist neuerdings auch ein Ort geplant, wo sich reiche Menschen einfach mal so mit armen Menschen an einen Tisch setzen können. Unklar ist, was dem Team Arme Schweine dafür gezahlt wird und ob man an diesem Ort zumindest rauchen darf, wenn man sich schon von neureichen Arschgeigen anfassen lassen muss.

Die Torgespräche der Begegnungsstätte Max Liebermann Haus laufen unter dem Motto "Sonden in die Zukunft". Irgendwas soll da in der Zukunft technisch gehen und vielleicht hat die Science Fiction ja eine Antwort auf die Frage, ob man eher in chemische oder in biologische Waffen investieren sollte. Auch die Sache mit der Gentechnik und was man damit alles machen könnte reizt die Finanziers dieser reizenden Veranstaltungsreihe. Man "verfügte im Jahr 2003 über ein Vermögen i.H. v. 30 Mio Euro" endet der dritte Satz der Selbstdarstellung dieser Stiftung, deren Vorsitzender des Kuratoriums, Prof. Dr. Roman "Ruck durch Deutschland" Herzog, mal Bundespräsident war. Prof. Dr. Eckard Minx von der freundlichen Waffenschmiede DaimlerChrysler gab den offiziellen Grußaugust und Moderator war und ist Dr. Karlheinz Steinmüller von der Z_Punkt GmbH (Büro für Zukunftsgestaltung), aktiv im EDFC, dem Ersten Deutschen Fantasy Club e.V. Die Z_Punkt GmbH ist u. a. zuständig für die Trenddatenbank . "Für 12 Monate können Sie zu einem Preis von 18.000 € (Deutsch) bzw. 24.000 € (Deutsch/Englisch) online auf alle Trends und Charts zugreifen." Klingt super, oder? Ruhig auch mal bei Steinmüllers ein wenig umsehen und in der Forschungsabteilung auf "Zukunftsgruppe" clicken! Klasse! Geil beknackt auch seine wahnsinnig schlecht geschriebene Kurzgeschichte "Das Internetz in den Händen der Arbeiterklasse". Ein echter Experte, der den Gästen der Torgespräche das Universum erklärt und damit wahrscheinlich den teuersten Science Fiction Fan Club aller Zeiten unterhält. Wie dünn können Bretter sein? Mann, Mann, Mann...

"Um dem Publikum die oft komplizierten Sachverhalte der Wissenschaft zu erschließen, (...) werden Wissenschaftler und Science Fiction-Autoren zu den aktuellen Themen wie Bio- oder Computertechnologie, wie Hirnforschung oder virtuelle Geschichtswissenschaften befragt", verspricht die Ankündigung. Für diese absolute Scheißidee gibt es also 30 Mio EU, großartig! Die feinen Herren lesen also gern Science Fiction und irgendwie haben sie diesen Quatsch tatsächlich finanziert gekriegt. Die Achtziger verschlafen, vom Internet überrascht worden, in die falschen Aktien investiert und jetzt plötzlich über Science Fiction reden wollen weil die Wirtschaft eine neue Wunderwaffe braucht, das sind mir die richtigen! "Büro für Zukunftsgestaltung" klingt schwer nach ökonomischer Quacksalberei. Mit dem Ende der New Economy stehen Berufsvisionäre wie Matze Horx, Michael Konitzer oder diese Hansel aus dem Odenwald mit ihren esoterisch fundierten Manager-Seminaren natürlich doof da. Science Fiction ist da für einige zum Rettungsboot geworden. Schnell hatte man den alten Phil K. Dick neu entdeckt und Romane aus der Post-Cyberpunk-Ära des Genres rausgekramt, in denen echte Wissenschaftler über Nano Nano und Genetik phantasierten. Am Ende bekommt man für die 30 Mio sowas wie das gestrige Torgespräch mit dem Titel "Unendliche Weiten - von der Faszination eines multikulturellen Weltalls".

Moderator Steinmüller hatte sich schon lange auf diesen Abend gefreut. Unter dem Deckmantel, über multikulturelle Zusammenhänge sprechen zu wollen, konnte er den ganzen Abend über sein Lieblingsthema reden: Perry Rhodan, die auflagenstärkste Science Fiction-Serie aller Zeiten. Dafür hatte er sich den sympathischen Autoren Frank Böhmert eingeladen, der u. a. auch drei Taschenbücher mit dem "Rhodan"-Label geschrieben hat. Dazu gesellte sich der geschätzte Kollege Dr. Dierk Spreen, u. a. Redakteur der "Ästhetik & Kommunikation", der in Sachen Massenkultur einiges auf der Pfanne hat. Dr. Spreen hat auch die "Perry Rhodan Studies" begründet und 2003 das schöne Buch "Spurensuche im All" (Archiv der Jugendkulturen, 20 EU) publiziert. Darin gibt es sehr viele schlaue Ansätze und es findet eine Auseinandersetzung mit Deutschlands mangelhafter Unterhaltungstheorie statt, aber davon wollte Dr. Karlheinz Steinmüller nichts wissen. Viel mehr freute er sich wie ein Schuljunge, einen echten Perry Rhodan Autoren anfassen zu können. Seine Moderation unterbrach immer dann, wenn es in die Tiefe ging und stets wusste sich Steinmüller als Fan der Serie zu outen, der sich keck ein wenig unwissend gab. Irgendwann erinnerte er sich sogar wieder an sein Oberthema und fand es ganz erstaunlich, dass es in einer Science Fiction Serie verschiedene Völker von Außerirdischen gab und diese irgendwie die Völkervielfalt auf der Erde mit all ihren Problemen spiegelte. Zu solch trivialen Einsichten gesellte sich der Hinweis auf einen Text des Kollegen Gregor Sedlag, der sich mit dem "Perry-Rhodan-Kosmos als Reflex der politischen Geschichte der BRD" beschäftigt, aber auch das war Steinmüller zu schwierig. Stattdessen wollte er am liebsten angelesene Anekdoten über die Väter der Serie verbreiten oder über die "neue galaktische Zeitrechnung" im "Perryversum" reden. Dr. Spreen konterte mit Ausführungen über die Rakete, Wernher von Braun, den Verein für Raumschiffahrt, die konstruktive Moderne - wie das alles begann mit der Science Fiction, wo es herkam und wo es hingehen sollte. Barsch wurde er von Steinmüller unterbrochen, der immer mehr den Eindruck erweckte, zu jenen Stammlesern zu gehören, die seit über dreißig Jahren mit "Perry Rhodan" alt geworden sind. Jetzt soll daraus irgendwie Multikulti-Soziologie werden und dann kann man darüber prima endlose Vorträge halten. Junge und Technik. "Immerhin eine Art Ritterschlag für die Perry Rhodan Studies", kommentierte Kollege Sedlag am Ausgang des Spektakels.

Die Deutschen haben die Science Fiction schon immer geliebt. Jules Verne und H. G. Wells fanden in deutschen Übersetzungen bereits großen Anklang, aber vor allem Kurd Laßwitz hatte mit seinem 1897 erschienen Roman Auf zwei Planeten für den frühen Erfolg der phantastischen Literatur in Deutschland gesorgt, die dort eine spezielle Entwicklung nahm. Mit der vergessenen Groschenheftserie "Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff" erschien zwischen 1908 und 1912 in Berlin auch die erste SF-Serie der Welt, die 1914 als "Der Fliegerteufel" neu aufgelegt wurde. Die harmlosen Abenteuer des maskierten Luftpiraten Kapitän Mors fielen später dem ”Schmutz- und Schundkampf” zum Opfer und wurden 1915 mit 151 anderen Heftserien verboten.

Captain Mors!

Die Phantastik hatte sich im Kaiserreich zu einem Tummelplatz für revanchistische Autoren entwickelt, die den Kaiser einen fiktiven Weltkrieg nach dem anderen gewinnen ließen. Den Deutschen kam dabei stets die Rolle des auserwählten Volkes mit offensichtlichen Führungsqualitäten zu. Die Entwicklung der deutschen Phantastik hin zum ”technischen Zukunftsroman” war vor allem militärisch geprägt. Zwischen 1871 und 1914 hatten sich die Briten gegen Invasionen in 21 verschiedenen Zukunftsromanen aus Deutschland zur Wehr zu setzen. Neue Kriegsinstrumente beflügelten die Phantasie. Der rasante Fortschritt der Technik und das Ende des 1. Weltkrieges sorgten für immer neue Wellen revanchistischer Literatur mit utopischem Fundament, die Irrationalität und Machtphantasien weiter Vorschub leisteten. Eine große Zahl von Autoren versuchte sich an alternativen Entwicklungen der Geschichte und einem neuen Weltkrieg in fiktiver Form. Natürlich gewannen in diesen Romanen wieder stets die Deutschen und rächten sich für die “Schmach von Versailles”. Diese Art von Romanen erfreute sich in der Weimarer Republik wachsender Beliebtheit und zeichnete ein interessantes Bild der Wunschvorstellungen dieser Zeit.

”Im Dritten Reich sollte das realisiert werden, woraus die Science Fiction noch immer ihr Kapital schlägt”, hielt der Autor Manfred Nagl fest ("Science Fiction in Deutschland", Tübingen, 1972, S. 164).

Die Perry Rhodan Studies sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber eine ausführliche Auseinandersetzung mit der deutschen Massenkultur des 20. Jahrhunderts steht noch aus. Siegfried Kracauer hat sich in seinem Buch "Von Caligari bis Hitler" bereits mit den deutschen Frühwerken des phantastischen Films beschäftigt, aber die Trivialromane fanden bisher kaum Beachtung. Lediglich das vergriffene Buch "Der alte Traum vom neuen Reich - Völkische Utopien und Nationalsozialismus" (Althenäum Verlag, Frankfurt, 1988) vom hervorragenden Jost Hermand hat sich wissenschaftlich mit der Materie beschäftigt, wenn man von den lobenswerten Beiträgen der deutschen Science Fiction Szene absieht. Ein interessantes Buch aus den USA wäre noch "Fantasy and Politics - Visions of the future in the Weimar Republic" von Peter S. Fisher (Wisconsin, 1991) und H. J. Galle bereitet ein neues Buch zu diesem Thema vor.

Nächsten Monat im Turmgespräch irgendwas mit Hirnforschung. Irgendwie so ähnlich wie damals im Verein für Raumschiffahrt, wo sich Science Fiction Fans, Wissenschaftler und Journalisten so lange gegenseitig was zusammen phantasiert haben bis die V2 endlich fertig war. Heute befruchtet man sich bei Begegnungen mit anschließendem Umtrunk in Sachen Nano Nano und Genetik. Man könnte auch mal über die grünen Fusion Tanks aus dem Videospiel Civivlisation reden, die ganze Landstriche entvölkern ohne die Umwelt zu belasten. Über die unterirdischen Sklavenfabriken möchte man im Think Tank am Brandenburger Tor jedenfalls nicht so gern nachdenken. Das klänge wohl doch zu sehr wie ein schlechter Science Fiction Roman.


ID - Stefan Ernsting - I have two books out, I work on cool movies and I've been blogging for 8334 days.

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Übersetzung:
David Wojnarowicz
Closes to the Knives

(Mox und Maritz Verlag)

"Von Stefan Ernsting hervorragend übersetzt." (Bayrischer Rundfunk))

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