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Friday, 28. January 2005

MUSIK:

Kettcar - Erst durch die Hölle und dann zu Ikea

Kettcar

Vor ungefähr zehn Jahren gastierte ich mit ASE am schönen Bodensee bei Markus Jeroma, der sich vor Ort um Konzerte in einem Laden namens „Molke“ in Friedrichshafen kümmerte. Wie es sich gehörte, betrieb er nebenbei noch ein kleines Label, brachte ein Fanzine namens „Toys Move“ heraus und steuerte einen kleinen Vertrieb für seinen und anderer Leuts Krempel. Als Punker hatte man immer was zu tun und man fühlte sich sehr wohl in diesem Biotop. Ein guter Laden. Noch heute steht ein Aschenbecher der „Molke“ auf meinem Schreibtisch und erinnert an dieses diffuse „früher“, eine Zeit, in der man noch unsterblich war. Kurz zuvor war mein alter Weggefährte Marcus Wiebusch mit seiner Band ...But Alive in der „Molke“ aufgetreten und am Tag danach passierte es. Marcus erwähnte, er würde nebenbei an einem Akustik-Set arbeiten, welches aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sei. Understatement, kennt man ja.

„Ein Volk steht wieder auf, na toll, bei Aldi brennt noch Licht“ („Deiche“, Kettcar)

...But Alive hatten gerade ihr zweites Album „Nicht zynisch werden“ rausgehauen. Erneut hatte Marcus mit dem akustischen Bonus-Track „Betroffen aufessen“ alle in unserer kleinen Welt überrascht. Der Song war Lichtjahre entfernt von der Kategorie Deutschpunk entfernt, die man für ...But Alive gelegentlich bereithielt. „Nicht Punk“ war ein Todschlagargument, womit man der Band leicht Unrecht tun konnte. Inhaltlich rollten sie die Punkszene von hinten auf, aber ihr Einfluß wurde von eben dieser kaum begriffen. Erst als aus den bekennenden ...But Alive-Fans Tocotronic später eine Megaband wurde, erahnte man den Wandel in Sachen deutschsprachiger Popmusik, der in der „Molke“ am Bodensee begann. Als Marcus Wiebusch auf dem eigenen Label 1998 das Debut von Tomte rausbrachte, wurde eine weitere Weiche gestellt. Heute machen Tomte die big points und Sänger Thees Ullmann gehört mit zu den Begründern des Hauslabels Grand Hotel Van Cleef, wo man u. a. die sensationellen Death Cab For Cutie betreut.

Wenn sich ...But Alive auch innerhalb der „Punkszene“ bewegten und „in jedem verdammten Jugenzentrum spielten, wo es eine Steckdose gab“, tummelten sie sich doch eigentlich in soziokulturellen Etablissements, die höchstens in grauer Vorzeit mal irgendwie Punk oder besetzt waren. Wieder zurück auf die Autobahn, Kilometer peitschen, einfach weg und immer weiter. Die paar hundert Kilometer: A1, A7, Dreieck Nürnberg-Fürth-Erlangen, Kasseler Berge und an den Landungsbrücken raus, drei Tage ausschlafen. Jeden Abend Ungewissheit und irgendwann Gewohnheit. Fast automatisch kennt man die besten Rasthöfe vor der Grenze und der Rucksack voll Geschichten platzt irgendwann aus allen Nähten. Fahrendes Volk aus Deutschland. Als Markus Jeroma den baumlangen Sänger von ...But Alive morgens in der Molke zu einer Aufnahme seines Akustik-Sets überreden konnte, wurde der Grundstein für Kettcar gelegt. Die Songs kamen unter dem Titel „Hippiekacke“ als Cassette heraus und das Tape erfreute sich im kleinen Kreise schon bald großer Beliebtheit. Gut, der Sound war „nicht Punk“, aber irgendwie hatte man es auch nicht mit einem jener Betroffenheitsbarden zu tun, an denen sich Marcus textlich so gern abarbeitete. Da ging noch was anderes. Der Künstler Marcus Wiebusch verlor auch ohne den Rest seiner Band nicht an Wirkung. Etwas später tauchte Marcus in Bremen auf und wirkte als Gaststar in „Jurassic Punk“ von Andreas Neuenkirchen mit. In einer Selbstreferenz an den Film, ein Kunstgriff, der 1995 noch sehr gewagt war, taucht Marcus mit Sonnenbrille im Backstage-Bereich der Premiere von „Jurassic Punk“ auf um zur Klampfe „Parties gegen Volker Rühe“ zu singen. Auch vor der Kamera überzeugte er allein durch Präsenz. Musikalisch gab seine Darbietung auf der hoffnungslos verstimmten Gitarre in der Küche des besetzten Hauses in der Grünenstraße nicht viel her, aber Marcus wollte, was er da machte. Bei ...But Alive war jenseits einer Zugabe nicht viel Platz für akustische Gitarren, aber Marcus weigerte sich trotzdem hartnäckig, sein Akustik-Set live zu präsentieren. Gelegentlich wurde er fast wütend, wenn man ihn darauf ansprach. Mit Kettcar hat Herr Wiebusch nun endlich ein Zuhause für sein Solo-Programm gefunden und auch Mitmusiker Erik bietet im Rahmen der anstehenden Tour eine zusätzliche „Akustik-Performance“. Andere Zeiten. „Das Gute an schlechten Zeiten, Pferde satteln, weiterreiten“, so singt man im heimlichen Hit „Einer“ vom neuen Album mit dem Titel „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“, welches am 7. März in die Läden kommt. Der limitierten Erstauflage liegt übrigens eine Extra-DVD mit dem Kettcar -Film des Kölner Filmemachers R. Gott bei, der kürzlich durch seinen Film und den zugehörigen CD-Sampler „Edelweißpiraten, die sind treu“ für viel Aufmerksamkeit sorgte. Auch Herr Ott hat mit Herrn Wiebusch gemeinsam die alte Schule geschwänzt und das Booking macht ein gewisser Zerstyra. Somit bleibt alles in der Familie und irgendwie hatte damit eigentlich niemand gerechnet. „Unsere Kunst hält ewig, anders als die andern, also anders als man selbst“ erklären Kettcar dazu in ihrem Song „Stockhausen, Bill Gates und ich“, vor dem man nur den Hut ziehen kann. „Drei Erfahrungen später...“ Der Song läuft seit einer Woche fast in der Dauer-Rotation meiner persönlichen Playlist. „Wir können alle lesen und du bist nie ein Dreckstück gewesen, anders als die anderen, also anders als man selbst.“ Im Refrain wird Marcus von einem leicht versetzten Mädchenchor begleitet und man begreift, wie verdammt gut und wie kreativ Kettcar musikalisch bei der Sache sind. Wenn sich die Aufmerksamkeit auch fast automatisch auf Herrn Wiebusch konzentriert, so werden vier Fünftel des Sounds vom Rest der Band bestritten und es ist Musik, worum es hier geht. „Die Musik, die Musik, die Musik“, wie es Thees Ullmann karnevalesk formulierte. Es stimmt fast alles auf dem neuen Album. Im Studio wurde mehr gewagt und wieder siegt bei allem Pop die Dichte der Songs, deren kompakte Instrumentierung sich nie aufdrängt, aber den Hörer auch niemals verlässt. Hier ist nichts überproduziert oder „nicht Punk genug“. Dies ist eine der Platten, die uns durch das Jahr bringen wird!


ID - Stefan Ernsting - I have two books out, I work on cool movies and I've been blogging for 8186 days.

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English Info

Übersetzung:
David Wojnarowicz
Closes to the Knives

(Mox und Maritz Verlag)

"Von Stefan Ernsting hervorragend übersetzt." (Bayrischer Rundfunk))

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