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Wednesday, 23. October 2002

MUSIK:

Kettcar - Im Bus mit Marcus Wiebusch

Nach dem Fight bleibt das nüchterne Gefühl, daß man nichts dagegen tun kann, daß man tut was man so tut und glaubt zu wissen wofür es sich zu sterben lohnt. Meist ist das ja nicht mal besonders viel. Für ein kleines bischen Ehre diese Tritte in die Magengrube deiner Würde.
Dein erster Schlag trifft ungelenk die Schulter deines Gegners.
Füße in L-Stellung, das hat man doch schon mal bei Bruce Lee gehört...
Der direkte Haken trifft dich unerwartet mitten auf die Nase. Blut schießt das Gesicht runter und du taumelst zurück. Das Nasenbein scheint im Hinterkopf zu stecken und die Bilder im Kopf schalten auf fast forward.
Der Schmerz wird von aufkommender Ohnmacht übermannt, aber irgendwie gewinnt Wut die Überhand.
Ground Zero. Der Moment der Ruhe, der dich erkennen lässt, daß die Gewalt eben doch ziemlich echt ist. Sie bricht plötzlich und unkontrolliert aus, sprüht Funken, reißt die Massen mit sich und verwandelt friedliche Bürger in einen tobenden Mob.

Der Nullpunkt. Man guckt nach oben und wundert sich, was der Schädel alles aushält während man seine Zähne befummelt. Wieder mal gut gegangen. Man sollte sich erstmal den anderen Typen ansehen, hä, hä...

Man kannte die gute Gewalt, die offiziell sanktionierte Gewalt korrekter Befreiungs-Bewegungen, die irgendwie links rüberkamen. Nicht wirklich Realität, aber doch irgendwie vertraut. Die tapferen Zapatisten in Mexiko , schon irgendwie cool.

Aber richtig auf die Fresse tut ganz anders weh.

Marcus Wiebusch kommt ein wenig in's Plaudern während er den Tourbus der kanadischen Power-Rocker Propagandhi irgendwo zwischen Italien und Spanien die verregnete Cote D'Azur runterjagt. "Richtig peitschen" nennt er das und man weiß eigentlich nie genau ob er gern Auto fährt oder der Job einfach nur immer an ihm hängen geblieben ist weil er mit Menschen in Bands spielte, die keinen Führerschein hatten.
In den zehn Jahren, die ich den hünenhaften Sänger der Hamburger Band Kettcar kenne und schätze, drehte sich immer alles um den jeweiligen Bus einer aktuellen Tour. Aber wir haben nie über Autos gesprochen. Interessiert sich Marcus für Autos? Ich habe keine Ahnung.
Auf den Rückbänken unsere Boys, fuhren wir den Highway runter ohne zu wissen, was uns in Spanien erwarten würde. Hinter uns lagen zwei Wochen Tour, die ohne größere Übertreibungen als Erfolg verbucht werden mußten. Jeden Abend Nonstop-Wahsinn und ein knallvoller Randale-Saal, der Propagandhi feiert als hätten sie noch nie die erfolgreichste Polit-Band der Welt bei der Arbeit gesehen.

Nur in Süd-Italien hatte man uns verladen. "Kein Hotel" hieß es nach der Show und so wurden wir mitten in der Nacht zu einem ominösen Pennplatz an der äußersten Stiefelspitze geführt. Wir hörten unterwegs wieder die neue "Kettcar". Nach über 40 Minuten Fahrt setzte der Ortskundige irgendwo seine Freundin ab und verabschiedete sich auf dem Hacken mit einem "uno momento". Er ließ uns um 5.30 morgens einfach vor irgend einem dunkelen Haus stehen.
Marcus war ausgestiegen um die Lage zu checken als der Typ in sein Auto stieg und grußlos in die Nacht verschwand. "Fuck", sagte Chris und es gab auch nicht viel mehr zu sagen. "This is it, eh", mutmaßte Jordan und mir wurde klar, daß wir nicht mal einen Baseball-Schläger hatten. Aber wir hatten zwei tolle Kampfsportler an Bord und waren als bewährtes Team auf alles vorbereitet.
Marcus stand für einen kurzen Moment verloren auf der Straße bevor er wieder einstieg, den Bus wendete und nach nicht zu langer Suche ein Hotel für den Rest der Nacht fand. Wo waren wir?
Am nächsten Tag mußten wir wieder früh auschecken, lagen ein wenig weiter nördlich am Strand rum und nahmen dann die Fähre nach Griechenland, wo man mit einer zweitägigen Orgie auf uns warten sollte.
Aber mir fehlt die Erinnerung, wo und wie wir irgendwo dazwischen gelandet sind.
Die Band, ihr Mixer Marc Chaplin und ich wussten, daß wir uns wieder in den sicheren Armen von "Papa Wiebusch" befanden, wie wir Marcus hinter seinem Rücken heimlich nannten.

Als Marcus ausstieg und ein sehr intensiver Tag damit zu Ende ging, daß man uns nachts im Schoße der Mafia aussetzte, schaltete sich sofort die kollektive Wahrnehmung im Bus ein.
Es bedurfte nicht vieler Worte um zu registrieren, daß wir alle dasselbe dachten. Satzfetzen wie "is he gonna....?" oder "Eh,...no.." konnten eine Menge sagen, wenn man schon ein paar mal gemeinsam im Schützengraben der Rockindustrie gelegen hat.
"Jede Show wird anders und speziell", hatte Marcus versprochen und er sollte Recht behalten. Aber die Sache in Süd-Italien war nicht eingeplant und in dieser Nacht ist für Marcus der Glaube gestorben, daß man uns nicht hauen und beklauen würde weil man das bei Propagandhi halt nicht tut.

Niemand mußte es aussprechen, aber alle wussten, daß wir so schnell wie möglich weg wollten. Das Kollektiv wollte weg und nicht erst überlegen ob es unhöflich den Leuten gegenüber ist, die womöglich irgendwo in diesem dunkelen Haus gegenüber mit warmen Bettchen auf uns warten. Wir hatten nicht einmal einen Namen um jemanden wach zu klingeln und irgendwie fühlte das Kollektiv, daß Marcus womöglich denken könnte, daß die Band denken könnte, daß man es ja versuchen müßte wegen Höflichkeit und Szene und so.
Aber dafür hatte Marcus keine Zeit und wer ihn kennt, wird vieleicht schon mal bemerkt haben wie er besonders langsam und leise spricht wenn es wirklich ernst ist. Meist reibt er sich dann erst noch beidseitig die Augen, streckt sich und irgendwann ist er wieder gut drauf.

Erstaunlich wie schnell der Kopf verarbeitet. Morgens waren wir noch in Rom gewesen, waren dann 576 km durch Italien nach Lecce gefahren, hatten mit dem Veranstalter Lorenzo und seinen Kumpels Fußball gespielt, wobei die deutsch-kanadische Auswahl heldenhaft siegte und die Azzurros uns vieleicht deshalb nicht so richtig gesonnen waren.
Die Bühne kam erst um 22 Uhr, es gab nichts zu essen und nur vereinzelt Getränke, wozu man wissen muß, daß es sich um ein Open Air im Niemandsland handelte. Aber wir sind eisern und wir mußten wieder mal nicht viel sagen, daß unser Kollektiv "not amused" ist und außerdem Durst hat. Das passiert jeder Dorf-Band und es passiert auch einer Band, die problemlos in Japan und Australien touren kann.

"You can rearrange my face, but you can't rearrange my mind."
(Propagandhi)

Ja, es gibt Veranstalter, die das mühsam gebaute Netzwerk der gut draufen Leute für ihre hinterhältigen Selbstbereicherungspläne nutzen und auch die heiligen, heiligen Propagandhi bei Eintritts-Prozente-Deals um ihre Kohle bescheißen. Menschen erschießen andere Menschen im Kongo und niemand sieht hin weil Banken und Konzerne munter abkassieren. Das entsetzt Marcus und er kokettiert dann gelegentlich mit einem kindlichen Willen zur Unschuld.

"Als ob wir anders wären", singt er auf der neuen Kettcar und thematisiert damit die emotionale Mutation, die ihm scheinbar nicht nur an ihm selbst aufgefallen ist. Da ist also doch irgendwas von dem gegangen, was die sensibilisierten WG-Revolutionäre der frühen 90er mal ausgeheckt haben.
Wir fahren über die Grenze nach Frankreich und hören erneut die neue Kettcar.Alle waren gespannt auf die Platte und 20000 Downloads der ersten vier Songs sprachen auch eine nicht ganz undeutliche Sprache. Marcus war voll in seinem Element und redete dann von dieser Nacht und dem Kampf, nach dem in Hamburg scheinbar eine neue Ära ausgebrochen ist. Thees von Tomte, der in Schlägereien wenig erfahrene, und wahrscheinlich betrunkene Mädchen-Schwarm aus dem Adelsgeschlecht derer, denen man in Hamburg guten Tag sagen muß, beging einen großen Fehler, der kommenden Generationen nicht passieren sollte: er startete eine Schlägerei ohne seinen Freunden Bescheid zu sagen.

Seine Motive waren nobel; hatte doch ein stark angeheiterter Grobian die Damen in seiner Begleitung unflätig belästigt. Aber die Lage wurde schnell unübersichtlich und gipfelte darin, daß der baumlange Marcus den Aggressor ungefähr 20 cm über dem Boden an die Wand drückte und eine Form von Gewalt androhte, die er bis dato nicht mal als Drohung gebraucht hatte.
Danach mußte Thees ein bischen abgewischt werden und Marcus schrieb nachts in seiner 2 Zimmer-Wohnung einen Song: "volle Distanz", der Opener des ersten Albums seiner neuen Band Kettcar. Die melancholische Grundstimmung bestimmt auch den Rest der Platte, abgesehen vieleicht vom zweiten Song, dem Single-Hit "Ausgetrunken", der definitiv auch tanzbar ist. Das clevere, kleine Piano macht sich bemerkbar und der breite Ansatz ist Pop. "Artverwandte deutschsprachige Bands:keine bekannt" heißt es im offiziellen Band-Info.
Es fehlt der Drang etwas zu dekonstruieren, was die Alten vorgemacht haben und dazu passt, daß die Boywonder-Band Tocotronic von jeher als große Fans von ...But Alive galten, der Band, mit der Marcus und Schlagzeuger Frank in den 90ern in "jedem verdammten Jugendzentrum in dem es eine Steckdose gibt" gespielt haben. Man setzt den Jüngeren eher wieder was Neues vor als ein Revival mit Ex-Members of...-Schild zu backen.

Kettcar haben nichts von der Suche nach einer neuen linken Identität zu tun, die ...But Alive auf ihren vier Alben skizziert haben. Sie suchen auch nicht die Nähe zum Punk.
So ist "Du und wieviel von deinen Freunden" am ehesten post-...But Alive weil die Band ebenso stark von ihrem Frontmann bestimmt wird. Der schreibt die Texte wegen denen die kleinen Mädchen weinen, aber die finden die anderen Jungs auch total süß.

Marcus ist immer noch verdammt gut bei dem was er macht. Und er weiß auch ganz genau was er macht und spielt mit den Worten bis sie auf dem Papier richtig sitzen. Und man kennt "den Plan, als man damals nach Hamburg kam", wenn man auch nie dort gewohnt hat. Die Sache mit dem Nullpunkt und der Notaufnahme.
Und die Musik?

"Menschen, die Montags zu Elliot Smith und Dienstag zu Fugazi gehen, um sich Mittwochs im Proberaum zu treffen."

Es rockt an zwei Gitarren, einem Bass, und je ein mal Drums und Piano. Lange habe ich keine CD mehr so oft hintereinander gehört.
Thees hatte ja angeblich eine dreistündige Gänsehaut als er die Platte zum ersten mal im Bus von Hamburg nach Berlin hörte.

Wieder dieser Bus. Ich hörte die CD zum ersten mal auf dem Weg von Hamburg zum Frankfurter Flughafen. Unterwegs entfaltete sich der Sound besonders schön, wenn man schön fette Boxen wie im guten, alten Highway-Tiger hat. Es war nur nicht der richtige Augenblick der Aufnahmebereitschaft, Marcus.

Wer will schon DJ sein und dauernd fliegen müßen?! Immer die Autobahn runter und ein Königreich forever. Aber, that's what we do. Als ob wir anders wären.

kettcar - du und wieviel von deinen Freunden - Cover
Band-Homepage: Kettcar.net CD: Kettcar -du und wieviel von deinen Freunden
VÖ: 28.10.2002

Das Hamburger Kombinat von Tomte, Kettcar, B.A.Records und den kanadischen Weakerthans hat geheiratet und veröffentlicht besagte Bands auf einem neuen Label. Damit ist B.A.-Records mehr oder minder aufgelöst. Die Verhandlungen der Band mit diversen Mayors waren wohl nicht so dolle!
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English Info

Übersetzung:
David Wojnarowicz
Closes to the Knives

(Mox und Maritz Verlag)

"Von Stefan Ernsting hervorragend übersetzt." (Bayrischer Rundfunk))

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