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Tuesday, 14. February 2006

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JOBS

Das Vorwort finden sie hier!

  1. Kapitel: Ich war jung und brauchte das Geld

Die Sommerabende tollte ich traditionell jenseits des Walkiefers am Vegesacker Utkiek herum. Man hockte auf den Steinen, hörte immer wieder die „Never mind the Bollocks“ von den Sex Pistols und trank mehr Bier als gut für einen war. Es war eine gute Zeit. Häuser wurden besetzt, Bands gegründet und Eier auf CDU-Abgeordnete geworfen bis die Polizei kam. Wir waren so richtig coole Rowdies und dabei notorisch pleite. Über meinen Kumpel Arne lernte ich Tom kennen, der gerade auf dem Vulkan Öltanks von innen reinigte. Tom gehörte zu den älteren Punkern der Erfahrungsstufe 3, die über die richtige Checkung verfügten, wie wir uns damals ausdrückten. Es gab definitiv keinen schmutzigeren Job auf der Welt als Öltanks sauber zu machen. Ein paar Jahre später bekam ich den gleichen Job im Hafen angeboten und lehnte dankend ab. Tom stank von Tag zu Tag immer schlimmer und seine Haare waren ein einziger Klumpen. Wir tranken Bier, starrten auf die Weser und lauschten seinem Insider-Report von der Werft, aber niemand wollte so richtig mit ihm tauschen. Stattdessen verlagerte man sich im Zweifelsfall aufs Schnorren von Kleingeld und manche meiner Kumpels von damals sind bis heute dabei geblieben. Ich war im Schnorren allerdings sehr schlecht und hatte mich deshalb über kurz oder lang an das Dasein als Proletarier zu gewöhnen. Ich hatte da allerdings zu romantische Vorstellungen.

Im Sommer 1986 verdingte ich mich mit rund 50 anderen Arbeitsanfängern in einer Gärtnerei auf der anderen Seite der Weser. Einer der Punker vom anderen Ufer der Weser hatte den heißen Tipp verbreitet, dass ein Gewächshaus auf der niedersächsischen Seite des Flusses einen Großauftrag von Aldi bekommen hatte. Seine Schwester arbeitete vor Ort und berichtete, es würde sich um sehr kleine leichte Pflanzen handeln, die man möglichst schnell auf LKWs zu verladen hatte. Für uns Punker klang das teilweise nach einer willkommenen Abwechslung. Alle waren chronisch pleite und die Sache klang nicht allzu schwer. Kleine, leichte Pflanzen, here we go!

So überquerte ich jeden Morgen mit Arne in frühester Frühe die Weser. Wir waren Fahrrad-Pendler auf der Weser-Fähre nach Niedersachsen und wir waren nicht allein. Viele graue Gesichter fuhren täglich nach Lemwerder rüber und verschwanden dort in den geheimen Kellern der Rüstungs-Industrie. Nach einer Woche kannte man sie alle vom Sehen, aber jeder blieb für sich allein. Manche fuhren vielleicht seit Jahren über den Fluss zusammen und hatten nie ein Wort miteinander gewechselt. „Auf Dauer ist arbeiten voll ungeil!“ Arne war ganz meiner Meinung, aber wir waren längst selbst drin in der Mühle. Zwei Wochen später sprachen wir morgens kaum noch ein Wort miteinander. Wir hatten unser Witze-Potential schnell verbraten und uns eigentlich nicht viel zu sagen. Im Laufe der Jahre lernte ich unglaublich viele Menschen wie Arne kennen, deren Namen mit entfallen sind. Immer wieder verbrachte man Wochen, Monate oder auch mal Jahre mit Menschen zusammen, die man sich nicht ausgesucht hatte. Kollegen. Man redete über die Arbeit und manchmal besser nicht zuviel über sich selbst. Fiel die Arbeit weg, sah man sich nie wieder.

Die Arbeit in der Gärtnerei war nicht schlecht. Die Töpfe wurden von Arbeiterinnen am Fließband mit einer Plastikhülle umhüllt und zugeschweisst. Männer schienen für diese Tätigkeit nicht geeignet. Ich fuhr den ganzen Tag Paletten mit geschichteten Blumentöpfen vom Gewächshaus auf den Parkplatz. Ich erhielt meine Grund-Ausbildung zum Hubwagenfahrer, eine Fertigkeit, die ich später zur Perfektion gebracht habe. Ich lernte das schnelle und präzise Manövrieren auf engstem Raum, das lässige Einhand-Rollen auf dem Rückweg und sogar das Bremsen durch geschickte Verlagerung des Gewichts. Der Hubwagen war mein Skateboard und er sollte mich viele Jahre bei ähnlichen Jobs begleiten.

Der Besitzer der Gärtnerei bekam in Anbetracht der allgemeinen Arbeitsmoral graue Haare. Er hatte am Fließband eine große Zahl junger Damen der höheren Gesellschaft angeheuert, die von Überstunden nichts wissen wollten und vom ersten Tag an eine Art von stiller Meuterei praktizierten. Sie klagten unentwegt die Arbeitsbedingungen ein und fühlten sich ständig ungerecht behandelt. Ihre Tennis-Stunden korrespondierten dabei ungünstig mit dem Anspruch, die kleinen, leichten Pflanzen möglichst schnell vom Hof zu bekommen. Nach kurzer Zeit verließ ein Teil der weiblichen Belegschaft unter Protest den Job und der Mann von der Gärtnerei ging pleite weil Aldi nicht pünktlich beliefert werden konnte.

Der Job lief somit kürzer als geplant und ich suchte händeringend nach einer anderen Beschäftigung. Man riet mir zur Jobvermittlung des Arbeitsamtes, wo ich sofort vorstellig wurde und tags drauf sofort einen neuen Job bekam. Ein alter Öko hatte einen Ziegenstall zu entmisten. Problem war nur, der Stall stand in Neuenkirchen, am Rande der mit dem Fahrrad an einem Tag erreichbaren Zone. Die Sache war weniger schlimm als gedacht, aber die Entfernung stand in keinem Verhältnis zum Lohn. Ich brauchte Geld, wollte beim Arbeitsamt nicht sofort den ersten Job ausschlagen und bekam auch prompt eine weitere Beschäftigung über die Jobvermittlung, die mich schon bald als zuverlässigen Mann schätzte, der so ziemlich alles machte. Meine Lohnsteuer-Karte war überall gern gesehen und ich war nicht wählerisch, wenn die Kohle halbwegs stimmte.

Neben dem Vulkan wird Bremen auch immer gern in einen Zusammenhang mit der Pleite der Neuen Heimat in Verbindung gebracht, wovon in einem späteren Kapitel ausführlicher berichtet wird. Die Neue Heimat war eine dieser prima Firmen, der wir die Plattenbauten im Westen zu verdanken haben. Eine dieser schönen Ghettoburgen ist die Grohner Düne am Vegesacker Bahnhof, ein riesiger Hochhaus-Komplex mit gestapelten Wohnungen für die unteren Zehntausend. Hier verstaute man vor allem die Gastarbeiter, die man unter sich wissen wollte um später deren mangelnden Integrationswillen zu beklagen.

In einem dieser hässlichen Wohnblöcke galt es eine Wohnung zu renovieren und die Hausverwaltung lockte dafür mit traumhaften 25 DM in der Stunde. Ich sagte sofort zu und fand mich tags drauf pünktlich beim zuständigen Hausmeister im entsprechenden Hochhaus ein, wo ich Ollie kennen lernte. Ollie war etwas älter als ich und ein gestandener Punker, der auch als Hilfsarbeiter einen ausgezeichneten Ruf genoss. Er war handwerklich sehr begabt oder zumindest kannte er das Vokabular der Schwarzarbeit bereits besser als ich. Ollie war bekannt dafür, dass er seinen Stundenlohn mit dem Taschenrechner direkt in Hansa-Pils von Aldi umrechnete. Bei Ollie hieß es statt „puh, nur noch eine Stunde“ immer „29 Dosen to go!“ Wir verstanden uns sofort gut und an seiner Seite wurde man von den älteren Punkern plötzlich ganz anders beäugt. Immerhin hatten wir auch eine ziemlich gute Geschichte zu erzählen, die uns in diesem Sommer verband.

Wir fuhren mit dem Fahrstuhl in den 13.Stock der Grohner Düne. Es roch nach Kohl und Bohnerwachs. Uns zur Seite stand ein Schwarzarbeiter im fortgeschrittenen Alter, der im Haus scheinbar ein Abo auf kleine Jobs hatte. Der Hausmeister hatte ihn sofort zum Sprecher befördert und niemand hatte groß etwas dagegen gehabt. „Man hat euch doch wohl gesagt, welche Wohnung wir da renovieren dürfen,“ bemerkte der Alte beiläufig. Auch Ollie hatte man nicht vorgewarnt und seine erste Reaktion war: „Gut, geh ich mal zu Aldi und hol uns ‚ne Palette und ihr lüftet unterdessen mal ein bischen. Scheiße, verfluchte Scheiße, ich muss gleich kotzen!“

Die Tür war von der Kripo versiegelt worden und der Gestank war unbeschreiblich. Es war Hochsommer, aber die Polizei hatte leider die Fenster geschlossen. Der Alte und ich rissen alle Fenster auf und flüchteten auf den Balkon bis Ollie mit dem Bier kam. Wir ließen die Badewanne voll laufen und besorgten uns Säcke mit Eiswürfeln für die Hansa-Kollegen. Wir waren den ganzen Tag besoffen, aber nach fünf Tagen war die Sache erledigt. Dabei hatten wir die letzten beiden Tage eigentlich nur noch gesoffen und am ersten Tag kaum was auf die Reihe gekriegt. Der Alte, der sich als kompetenter Tapezierer erwies, wenn er auch oft von der Leiter zu fallen drohte, was versicherungstechnisch nicht einfach gewesen wäre, klebte ein paar Ecken ab und lief geschäftig mit dem Zollstock rum. Ollie und ich hörten derweil den ganzen Tag Dead Kennedys und kippten Hansas runter. Immerhin hatten wir den Teppich entsorgt und uns eine lange Pause verdient.

Die Wohnung hatte drei Zimmer, eine Küche und ein Bad. Eine Woche vorher war sie Schauplatz eines Mordes gewesen. Ein Mitbürger hatte im religiösen Wahn seine Frau bei lebendigem Leibe mit einer Axt in sieben Teile zerlegt weil sie neue Vorhänge aufgehängt hatte, die ihr Ehemann als „zu westlich“ empfand. Die vierjährige Tochter musste alles mit ansehen. Nachdem die Frau tot war, trug der Mann die einzelnen Teile der Leiche planlos durch die ganze Wohnung um den weißen Teppichboden im Wohnzimmer nicht zu versauen, wie er später vor Gericht aussagen sollte.

Alles war voller Blut. Die Kripo hatte jeden Spritzer an den Wänden fein säuberlich mit kleinen Aufklebern markiert als gäbe es einen Zweifel am Tathergang. Die ganze Schweinerei war schon eine Woche alt und der blutgetränkte Teppichboden lag immer noch im Wohnzimmer. Irgendwer musste langsam und unauffällig die Spuren beseitigen. Ollie und ich kippten unsere Biere runter und hielten die Luft an. Das Schlimmste immer zuerst. Wir rollten den Teppichboden irgendwie zusammen und stopften ihn in den Fahrstuhl nach unten. Ohne groß zu überlegen stiegen wir mit dazu. Der Gestank auf engem Raum war so bestialisch, dass wir uns sofort für unsere eigene Dummheit verfluchten.

Auf dem Hof standen ein paar Kinder zusammen. Am Tag zuvor hatte sich jemand vom Dach der Grohner Düne in den Tod gestürzt. „Hier ist noch ein Stück vom Mensch,“ sagte eines der Kinder und stocherte im Dreck herum. Ollie und ich stopften den blutigen Teppichboden in einen Müllcontainer und verpissten uns möglichst schnell bevor jemand dumme Fragen stellte.

Die nächsten Tage machten wir in aller Ruhe unseren Job. Der Alte kommandierte uns ständig herum, aber im Prinzip war er ein interessanter Vogel. Er hatte in diesem finsteren Wohnblock schon eine Menge Scheiße gesehen und wischte nicht zum ersten Mal das Blut weg. Ich war jeden Abend rechtschaffen kaputt und verdiente für meine Verhältnisse eine gute Stange Geld. Wir rechneten lächerlich viele Überstunden ab, aber der Auftraggeber war mehr als froh, dass die ganze Sache möglichst flott über die Bühne ging. Wir hätten eigentlich noch mehr fordern können, aber dafür waren wir zu blöd.

...wird fortgesetzt


ID - Stefan Ernsting - I have two books out, I work on cool movies and I've been blogging for 7969 days.

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English Info

Übersetzung:
David Wojnarowicz
Closes to the Knives

(Mox und Maritz Verlag)

"Von Stefan Ernsting hervorragend übersetzt." (Bayrischer Rundfunk))

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